Wozu Staat?
Wozu Staat?
Vor fünfzig Jahren erschien Robert Nozicks „Anarchie, Staat, Utopia", eines der brillantesten Werke der Gerechtigkeitstheorie. Und eines der aktuellsten.
Wozu Staat? Was darf er, was darf er nicht? Wie kann er „gerecht" sein? Diese Fragen stellte ein Buch, dass der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1938-2002) vor genau 50 Jahren veröffentlichte: Anarchie, Staat, Utopia. Es war ein Gegenentwurf zur „Theorie der Gerechtigkeit" seines Harvard-Kollegen John Rawls. Es könnte heute noch als Korrektiv wirken. Denn wenn der Staat vor vielfältigen Herausforderungen und stetig wachsensen Ansprüchen steht, ist Konzentration auf das Wesentliche das Gebot der Stunde. Aber was ist „das Wesentliche"?
Für Nozick ist es der innere und äußere Schutz. Würde innere Sicherheit und Recht lediglich privatwirtschaftlich als Ware angeboten und herrschten Selbstjustiz, mafiöse Strukturen und Privatarmeen, verletze das die Naturrechte der Individuen. Notwendig sei deshalb ein Staat, der als Gewaltmonopolist die Spielregeln festlegt und durchsetzt. Nur wenn das Recht geschützt würde, sei ein Leben in Freiheit und Sicherheit möglich. Umso mehr dürfe es bei der Rechtsdurchsetzung keine Toleranz geben. Den Rahmen für die Entfaltung dieser freiheitlichen inneren Ordnung sichere dann der äußere Schutz, also die militärische Wehrhaftigkeit.
Konsequenterweise rechtfertigt Nozick Steuern und andere Zwangsabgaben lediglich zur Erfüllung dieser beiden Zwecke – gleichsam als Entschädigung für den Schutz der Freiheitsrechte, die ja allen zugutekommen. Weitere Umverteilungen seien nur gerecht, wenn sie freiwillig erfolgten. Er bemüht dazu das Wilt-Chamberlain-Argument, nach dem der namensgebende NBA-Star durch freiwillig gezahlte Eintrittsgelder der Fans reich wurde. Größere gesellschaftliche Ungleichheit sei daher hinzunehmen, wenn sie auf freien Verträgen basiere.
Damit widerspricht er der Meinung, dass Gerechtigkeit nur dann gewährleistet sei, wenn Güter mit dem Ziel der Gleichheit umverteilt würden. Ein Staat dürfe seine Macht nicht dazu verwenden, einige Bürger zu zwingen, anderen zu helfen; es sei nicht zu rechtfertigen, dass er unter dem Euphemismus des „Gemeinwohls" Menschen durch Zwangsarbeit teilenteigne. Eine umfassende Idee des guten Lebens könne die Gesellschaft nicht zusammenhalten. Es sei daher absurd anzunehmen, dass sich alle Bürger über die Sicherheit hinaus auf ein gesellschaftliches Ziel einigen könnten, die eine weiterreichende Rechtsverletzung legitimiere. Ein Wohlfahrtsstaat sei mithin ein Unrechtsstaat, weil er die Rechte einzelner verletze. Vielmehr sichere ein schlanker, aber kraftvoller Staat Freiraum für die diversen sozialen Utopien der Bürger. Und da die Einkommen der Bürger nicht übermäßig vom Fiskus geschmälert würden, öffne sich Spielraum für unsere Fähigkeit zur Großzügigkeit, also für freiwillige Unterstützungsleistungen je nach Anteilnahme, Neigung und Humanität.
Das war schon 1974 starker Tobak. Zwar respektierten dessen ideologische Gegner die Redlichkeit der Beweisführung und den methodischen Selbstzweifel, der das ganze Buch durchzieht. Aber ein Tsunami ernstzunehmender Kritik rollte umgehend an. Von Seiten der akademischen Zunft: Die postulierten vorstaatlichen Individualrechte stünden unbegründet im Raum. Inakzeptabel sei der vielzitierte erste Satz: „Die Menschen haben Rechte ..." und erst nachrangig Pflichten. Nozick meine nicht einmal seine radikal modellierte Individualfreiheit als praktisch nützliche Illusion begründen zu müssen. Von politisch interessierter Seite zentrierte die Kritik auf den Vorwurf des „Atomismus", der Menschen wie einander abstoßende Gasmoleküle modelliere. Nozick missachte die sozialen Folgen seiner Philosophie (wobei die Folgen eines wuchernden staatlichen Eingriffs in private Eigentumsrechte unkritisiert bleiben).
Aufklärung ist immer Aufklärung in einer bestimmten Zeit; eine zeitlose Vernunft ist schwer formulierbar. In diesem Licht scheint Nozicks radikalindividueller Freiheitsstaat heute aus der Zeit gefallen. Denn sein Modell „Keine Umverteilung, dafür Sicherheit!" steht gegenwärtig auf dem Kopf: „Keine Sicherheit, dafür Umverteilung!" Dafür nimmt man in Kauf, dass ein massiv umverteilender Staat die Leistungsbereitschaft der Menschen schwächt und damit den gesellschaftlichen Wohlstand langfristig senkt. Zudem hat man sich vor allem seit der Corona-Zeit an den staatlichen Eingriff gewöhnt und erlaubt ihm, eine immer stärkere Rolle zu spielen: Lieferketten zu kontrollieren, Quoten festzulegen, zu subventionieren und zu retten, was am Markt offenbar nicht bestehen kann. Insofern ist die von Nozick empfohlene Freiwilligkeit, also den Rückbau des interventionistischen Sozialstaats, heute kaum diskursrelevant. Wer dennoch daran erinnert, wird als sozialer Kahlschläger gebrandmarkt. Dabei kann es nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern um ein Mehr-oder-Weniger angesichts einer fundamental veränderten Weltlage. Wir erlauben uns aber mit Nozick zu fragen: Wie viele Kulturen sind untergegangen, weil sie am Bestehenden festhielten? Alle.
Aktueller und dringlicher scheinen seine Forderungen nach staatlichem Schutz der inneren und äußeren Sicherheit. Beide sind heute prekär. Im Inneren wird das Gewaltmonopol des Staates oft nur mit schlechtem Gewissen durchgesetzt: etwa bei unbewilligten Demonstrationen, mitunter sogar bei offen auf Zerstörung gerichteten Aktionen. Vor allem bei moralbasiertem Rechtsbruch wird Militanz nicht selten mit Nachgiebigkeit belohnt. Eine meinungsklimatisch sensible Haltung ist zur Behördenpraxis geworden. Der Fluch des Wohlstands: Platon erklärte in seiner Politeia, je reicher eine Gesellschaft würde, desto mehr fühlen sich die Bürger dem Staat überlegen.
Noch aufrüttelnder ist Nozicks Botschaft in einer weltpolitischen Situation, in der die mit Willy Brandt einsetzende Appeasement-Politik als gutgläubige Verharmlosung globaler Imperialismen erscheint. In den letzten Jahrzehnten wurde die äußere Sicherheitsdienstleistung des Staates in Westeuropa mit einem geradezu autistischen Optimismus vernachlässigt. Und auch wenn wir nicht gleich Flugscharen wieder zu Schwertern umschmieden müssen, so verweist Nozicks Buch doch auf die universale Priorität, die Investition in die äußere Sicherheit auf das Niveau der faktischen Bedrohung zu heben. Was nützen soziale Wohltaten, wenn wir unsere Freiheit verlieren? Wir müssen eine Situation verhindern, in der wir uns über Bürgergeld, Heizungsanlagen und genderneutrale Pronomen keine Sorgen mehr machen müssen.