Israeli und Hamas – haben sie einen Konflikt? Oder hat der Konflikt sie?

Israeli und Hamas – haben sie einen Konflikt? Oder hat der Konflikt sie?

Konflikte lassen sich nicht lösen, sondern nur in Bewegung bringen. Sie lassen sich beruhigen, aber nicht beseitigen. Es gilt deshalb, die vergiftete Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Üblicherweise träumen wir von sozialer Harmonie und ewigem Frieden, der bisweilen unterbrochen wird, weil Menschen nun einmal Konflikte haben. Aus dieser Perspektive ist der Konflikt menschengemacht. Die systemische Sicht hingegen hält eine solche Beschreibung für unterkomplex. Demnach sind Konflikte unabhängig von Personen oder Strukturen der Umwelt, brauchen also keine Ursachen im «Aussen».

Konflikte muss man sich vorstellen als Bündel von Prozessen und Regelabläufen, von Reizen und Reaktionen, die ein Eigenleben entfalten und sich aus beliebigen Quellen immer neu ernähren. Wie ein Vampir verbeisst sich das System «Konflikt» in die Menschen und saugt aus ihnen heraus, was es braucht, um sich selbst zu erhalten – um als System weitermachen zu können.

Vom Kontextualisieren zum Relativieren

Wenn Menschen also in einen Konflikt eintreten, dann agieren sie nicht mehr, sondern reagieren auf Reaktionen, die wiederum auf Reaktionen reagieren. Dabei verwandeln sich Menschen oft so, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen. Jeder kennt das.

Das nimmt nichts weg von der Selbstverantwortung der Akteure – etwa in einen Konflikt einzusteigen oder nicht. Die Attacke der Hamas auf Israel am 7. Oktober war ohne Wenn und Aber reiner Terror. Das absolut Böse. Wer dem nicht zustimmt, hat jeden humanen Universalismus aufgegeben. Erst die systemische Beleuchtung verhilft zu einem Perspektivwechsel, der die Beteiligten entdiabolisiert und mithin eine realpolitische Chance der Beruhigung eröffnet. Deshalb ist es hilfreich, sich ein gegenwärtig hochaktuelles Kernelement des Systems «Konflikt» näher anzuschauen.

Geschichtsfälscher bezichtigen Geschichtsfälscher der Geschichtsfälschung. Wer also das Übel «an der Wurzel packen» will, muss sehr tief graben – und wird sich doch verirren im Dickicht der Beginnlosigkeit.

Einer der wichtigsten Tricks, mit denen der Konflikt sein Weiterleben sichert, ist die Retrospektive. Man blickt zurück auf eine Entstehungsgeschichte, von der man behauptet, sie erkennen zu können. Die «Analyse» des verstrickungshistorischen Hintergrundes sei angesagt. Das Zauberverb dabei: «kontextualisieren». Die sprachliche Form dafür ist das pflichtschuldige Grüssen des Gesslerhutes: «Ja, ja, das Massaker vom 7. Oktober ist verwerflich» – und dann folgt das «Andererseits . . .» oder das «Ja, aber . . .». Was in der Folge gesagt wird, hat mit Kontextualisieren nicht mehr viel zu tun, sondern ist schieres Relativieren. Das Verstehenwollen wandelt sich unter der Hand zum Verständnishaben. Dieser Kategorienfehler (deskriptiv/normativ) fällt kaum jemandem auf, gräbt sich aber subtil in die intrapsychischen Resonanzmuster.

Ich öffne hier die Linse und betrachte den Konflikt nicht nur als politisches Makrosystem, sondern auch als berufliches und privates Alltagsgeschehen. Denn Menschen halten gewöhnlich an der Erzählung fest, dass sie einen Konflikt haben – und nicht der Konflikt sie. Sie glauben, nur wenn man die Ursache eines Konflikts kenne, liesse er sich lösen. Sie fragen daher, bisweilen durchaus ergebnisoffen: «Wie ist der Konflikt entstanden?» Schon bald aber geht diese Frage über zu «Wer hat angefangen?», was sich wiederum schärft zu «Wer hat Schuld?». Früher oder später erschallt der Ruf nach Rache und Vergeltung.

Demgegenüber ist zu sagen: Ursachen zu suchen, heisst Schuldige zu produzieren. Und da Konfliktgeschichten als Opfergeschichten erzählt werden, hat immer der andere angefangen. Wie bei Kleinkindern. Wenn der andere den Konflikt verursacht hat, ist er auch «schuld». Deshalb reisst das Identifizieren von Ursachen alte Wunden auf. Für einen selbst hingegen ist die Suche nach Ursachen richtungsgleich mit der Suche nach Ent-Schuldigung. Man leuchtet stets dahin, wo man selbst am wenigsten zu verbergen hat.

Grundsätzlich ist die Frage nach dem Beginn eines Konflikts naiv: Sie ist weder sinnvoll zu diskutieren noch zu beantworten. Im sozialen Bereich sind die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge so ineinander verschachtelt, dass sich kein Anfang finden lässt – nicht ohne dem bereits Gewordenen Gewalt anzutun.

Niemand kann die Dinge entwirren, ohne sie zu verbiegen. An alte Geschichten hat jeder eine andere Erinnerung. Und irgendwann landet man dann im Jahre «Annodazumal», wo schon die Vorfahren des Gegenübers die Treibsätze für das Drama der Gegenwart gelegt hätten. Kuriose Szenen: Geschichtsfälscher bezichtigen Geschichtsfälscher der Geschichtsfälschung. Wer also das Übel «an der Wurzel packen» will, muss sehr tief graben – und wird sich doch verirren im Dickicht der Beginnlosigkeit.

Der britische Literaturnobelpreisträger Harold Pinter erklärt: «An manche Dinge erinnert man sich, obwohl sie vielleicht gar nie geschehen sind.» Gerade Konflikte lehren uns, für eine Wirkung nicht immer eine Ursache finden zu können – schon gar nicht eine einzige. Und wenn man sich verirrt hat, nützt es nichts, wenn man zu wissen glaubt, warum man sich verlaufen hat. Wer zu wissen glaubt, wie der Karren in den Dreck gefahren wurde, weiss noch lange nicht, wie er ihn wieder herauskriegt.

In die Zukunft schauen

Nun gibt es in keiner Beziehung einen wirklichen Neuanfang; das ist eine romantische Tröstung. Aber man muss die alten Wunden nicht immer wieder aufreissen. Das ist daher eine der grössten Herausforderungen bei Konflikten: Die vergiftete Vergangenheit hinter sich lassen. Sich vielmehr auf das gegenwärtige Erleben der Situation konzentrieren. Dann den Blick in die Zukunft richten, auf einen Zustand, der weniger leidvoll ist. Mehr ist nicht zu wollen. Denn Konflikte lassen sich nicht lösen. Sondern nur in Bewegung bringen. Sie lassen sich beruhigen, aber nicht beseitigen.

Wer das verstanden hat, hat einen wichtigen Schritt zu einem erträglichen Miteinander getan – unter einer Voraussetzung: Sofern man eine gemeinsame Zukunft will. Diese Voraussetzung ist prekär, wird sie doch im Nahen Osten von etlichen Beteiligten dementiert. Zumindest gegenwärtig. Aber irgendwann wird man nach vielem Blutvergiessen ahnen, dass Rache keine Politik ist. Und dass es nur eine Zukunft geben kann – eine gemeinsame. Sonst wird es für niemanden eine Zukunft geben. Dafür muss man die Flucht in die Vergangenheit aufgeben – in eine Sehnsucht, die das Beste im Abwesenden sucht. Zuweilen im Nie-Gewesenen.

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