Fallstricke der Transparenz

Fallstricke der Transparenz

Erzeugt erhöhte Transparenz Vertrauen? Eher das Gegenteil ist der Fall: Vertrauen setzt Intransparenz geradezu voraus. In der Situation vollständiger Information erübrigt sich Vertrauen. Gastkommentar von Reinhard K. Sprenger

Zu den Fließgleichgewichten, die jedwedes soziales Leben strukturieren, gehört die Ambivalenz zwischen Verbergen und Mitteilen. Sie brach kürzlich wieder auf, als ruchbar wurde, dass das Verfahren der Wahl von Vincenzo Mascioli zum Staatssekretär für Migration nicht dokumentiert wurde. Kein singuläres Phänomen: Die Bundesverwaltung „verzichtet“ bei heiklen Themen offenbar häufig auf schriftliche Protokolle, und sogar Bundesräte bevorzugen in gewissen Situationen das Mündliche.

Das „Öffentlichkeitsgesetz“, das öffentlichen Zugang zu amtlichen Dokumenten erlaubt, macht diesen Trend in der Schweiz besonders problematisch. Wenn es keine Dokumente gibt, ist es vorbei mit der Öffentlichkeit. Verwaltungsrechtler sprechen von „Umgehen“, „Unterlaufen“ und „Durchmogeln“. Auch Historiker sehen sich um ihre Forschungsgegenstände gebracht. Und die Politik will gesetzliche Verschärfungen auf den Weg bringen.

Licht erzeugt Schatten
Wenn man den Zustand einer Gesellschaft an ihren Fahnenwörtern erkennt, dann steht Fundamentales zur Diskussion: „Transparenz“ ist so ein Wort, bei dem reflexhaft Zustimmung aufbrandet. „Alle Karten auf den Tisch“, das klingt für viele einfach gut. Diejenigen, die dagegen sind, haben offenbar etwas zu verbergen, gehören vielleicht gar zum „lichtscheuen Gesindel“. Der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt brachte es auf den Punkt: „Wer etwas zu verbergen hat, sollte es vielleicht einfach nicht tun.“ Kein Zweifel: In einem Rechtsstaat ist das Private verdeckt und das Politische öffentlich; in einem Unrechtsstaat ist es umgekehrt. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht: Wer etwas beleuchtet, dunkelt anderes ab. Licht erzeugt wortwörtlich die „Schattenseite“. Wie sieht die aus?

Zunächst signalisiert die Forderung nach Transparenz: „Ich vertraue dir nicht!“ Sie artikuliert Misstrauen. Oder, wer es freundlicher will, die Sehnsucht nach Vertrauen. Zudem glaubt sie, Transparenz könne Vertrauen erzeugen. Das ist nicht auf der Höhe der Komplexität der Sache. Denn Vertrauen setzt Intransparenz geradezu voraus. In Situationen vollständiger Information, wenn man alles über den anderen weiß, erübrigt sich Vertrauen. Vertrauen ist daher ein Akt des Risikos, des Sich-verwundbar-Machens, des Schenkens – wenn man die Dinge eben nicht im Griff hat. Dann greift Reziprozität: Menschen gewinnen ein Gefühl von Würde und Stolz, wenn man ihnen etwas zutraut, wenn sie als vertrauenswürdig anerkannt werden.

Vertrauensverweigerung hingegen lässt den Stolz erodieren. Deshalb erzeugt Transparenz das gerade Gegenteil: begründetes Misstrauen. Durch Offenlegung gibt es nicht weniger Geheimnisse, sondern mehr. Übersehen wird, dass der Kontrollblick, je tiefer er lotet, immer mehr Unerschlossenes entdeckt. Was das Vertrauen weiter erodieren lässt. Aus gutem Grund: Je mehr Entscheidungsbereiche durch Gesetze ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden, desto mehr finden sich Mittel und Wege, sich der Beobachtbarkeit zu entziehen.

Es bauen sich Parallelwelten auf, in denen nichts mehr dokumentiert, nichts mehr geschrieben wird, heikle Themen nur noch mündlich besprochen und die Kreise der Eingeweihten enger gezogen werden. Absprachen wandern in die Hinterzimmer, von dort in die Hinterhinterzimmer, von dort in die Hinterhinterhinterzimmer. Man schaut sich tief in die Augen und versichert sich wechselseitiger Verlässlichkeit. Eigentlich wie früher – es gilt das Wort.

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